Ich hatte am Wochenende einen EV6 GT-Line zur Probe. Als erstes bin ich natürlich immer überrascht, wie wenig wirkliches Wisse beim Verkaufspersonal vorhanden ist, aber das ist ein anderes Thema. Genau so fehlt mir irgendwo der Umgang mit Kunden, den es aber auch bei anderen Marken nur per Zufallsgenerator zu finden gilt. Da ich schon seit einigen Jahren elektrisch fahre, und hier schon recht lange lese, war aber nahezu alles, was mit der Nutzung und der Bedienung zusammenhängt kein Neuland.
Ich beschäftige mich aktuell mit der Frage, welche Lösung ab Dezember für mich passt, da läuft das Leasing für meinen I-Pace aus. Jetzt hat mich die Elektro-Katze natürlich im Komfort verwöhnt, aber ich denke schon, dass sie der Zahn der Zeit hier und da etwas veraltet wirken lässt. Ich fahre 25 – 30 Tkm pro Jahr, wobei ich versuche geschäftliche Langstrecken mehr-und-mehr auf die Bahn zu verlegen, wo möglich. Aber es gibt ein paar mal im Jahr Distanzen von 400-800 km am Tag, die ich nicht vergessen sollte. Für mich gibt es also aktuell drei Lösungsansätze
- Fahrzeuge schon am Markt: KIA EV6 GT-Line, Skoda Enyaq Coupe 85x
- Fahrzeuge noch nicht verfügbar: VW ID7 GTX, Zeekr 001
- Ich versuche den I-Pace nach Leasingemde zu übernehmen und dann noch länger zu fahren
Alle Fahrzeuge entsprechen, soweit schon verfügbar, unserem Platzbedarf, den ästhetischen Ansprüchen und den grundsätzlichen Fragen nach Akkugröße, Dauer auf einer Langstrecke, Bedienung, Material, Verarbeitung und Verfügbarkeit von Ausstattungen. Andere Platzhirsche, die man auf meiner Liste erwarten würde, sind wohl deshalb draußen.
Also stieg ich am Samstag freudig in den aufgeladenen EV6, gabelte die Frau auf und wir fuhren eine angemessene Strecke, rund 2 Stunden Fahrzeit, 130 km: ca. 45% BAB, 45% Landstraße, 10% Stadtfahrt. Ein realistisches Abbild unseres Tagesbedarfs. Da wir drei Etappen gefahren sind, habe ich halbwegs versucht die Verbräuche getrennt zu erfassen. Es war am Samstag zunächst trocken, die Temperaturen gingen von 6°C auf 10°C. Ich fahre ruhig, vorausschauend, aber schleiche auch nicht. Das bedeutet, dass auf einer Landstraße bei vorausfahrenden 80km/h auch der Wunsch nach Überholen kommt. Aber es gibt eine strikte Einhaltung der behördlichen Tempovorgabe und Kurven werden ohne Gripbedarf durchfahren. Für eine gewünschte Nachtfahrt oder ein Kennenlernen über das komplette Wochenende wollte sich der Kia-Händler nicht bereit erklären.
Die erste Etappe, vom Autohaus nach Hause, über 20 km überraschte mich einem sehr niedrigen Verbrauch: 18,7 kWh/100km, aber es ging auch rund 110 Höhenmeter runter. Die zweite Strecke führte uns über rund 50 km quer durchs Rothaargebirge, also Landstraßen. Am Ende waren wir rund 150 m höher als am Anfang, der Verbrauch zeigte überraschende dann 26 kWh/100 km - etwas mehr als erwartet. Dann kam die Autobahnetappe zur Rückgabe: rund 60 km über die A46 und die A44 mit 110-130 km/h, auch mal 150 km/h um das Thema Assistenten, sowie Ruhe und Gefühl fürs Gleiten zu testen. Am Ende waren hier 25 kWh/100km angezeigt.
Edith rief noch hinterher: Es wurde nahezu durchgängig eine Gesamtreichweite (gefahrene Strecke + angezeigte Restreichweite) von 300 km prognostiziert. Das macht Sinn bei 25 kWh/100km und rund 75 kWh Nettobatterie. Der Verkäufer redete allerdings immer von rund 400 km. Wie viel mehr dann der gewünschte AWD brauchen wird....
Was ist mir aufgefallen: Der EV6 ist ein ruhig, kommodes und sehr angenehm zu fahrendes Auto. Das Fahrwerk ist straffer als im aktuellen Fahrzeug – klar das hat ja auch eine Luftfederung – aber es ist angenehm zu fahren. Lenkung und Antriebsstrang waren gut, da wir „nur“ den RWD hatten, war die Beschleunigung nicht umwerfend, aber in jeder Situation gut und angenehm zu nutzen. Sehr positiv fand ich die Assistenten, auf die ich gezielt geachtet habe. Das hat alles gut funktioniert und unterstützt den Fahrer, wobei ich den Spurwechselhelfer auf der Autobahn nicht bräuchte. Zum Glück war der Wagen noch ohne das Tempobimmeln, denn die Geschwindigkeitswarnung sprach ob Fehleinschätzung der Situation schon ein paarmal, hier nur optisch, an. Beim Rückwärtsfahren wird gebimmelt, das kennen wir, beim Kia allerdings penetranter, wenn auch nicht beängstigend, als bei anderen Autos. Dieser Teil der Betrachtung des Autos fällt dann mal gut aus.
Was haben wir denn im Auto erlebt? Die Bedienung ist schnell erlernt und auch durch das Infotainmentsystem hatten wir schnell den Durchblick. Wenngleich ich mir hier etwas mehr an Information und etwas schneller im Handling gewünscht hätte. Die Displays glänzen nicht mit einer hohen Auflösung, feinen Zeichnungen oder einer schnellen Reaktion. Die passenden Informationen, z.B. zu Ladestationen an der Strecke oder über Mediainhalte sind für mich zu verschachtelt oder gar nicht verfügbar. Da hätte der große Bildschirm in der Mitte etwas mehr Hingabe gebrauchen können, damit er auch mehr abgeben kann. Gleiches gilt für mich fürs Cockpit, wo viel Fläche mit sinnfreier Symbolisierung von Leistungskurven verschwendet wird, statt die harten Infos des Autos oder der Strecke anzubieten. Einzig die Toter-Winkel-Einblendung beim Blinken empfinde ich als sehr sinnvoll und innovativ hier. Vielleicht gibt es da noch Optionen, die sich vor mir versteckt haben, obwohl ich eigentlich sämtliche Menues komplett durchprobiert habe. Enttäuscht war ich vom HUD. Wahrscheinlich durch die Gleitsichteigenschaft meiner Brille, konnte ich das Display nicht wirklich scharf stellen. Passiert mir bei BMW auch so. Deshalb ist es keine Hilfe. Die AR-Funktion ist zwar nett, brachte mich auf der Landstraße aber 2x zu einer falschen Einschätzung. Dies kann auch durch die Rechengeschwindigkeit hinter der Anzeige bedingt sein. Dieses Kapitel wird der EV6 nicht als Sieger aller Probefahrten beenden, hier liegt er schon jetzt deutlich hinter dem oft so gescholtenen Jaguar PiviPro System zurück.
Und jetzt kommen wir zu den unangenehmen Dingen, diese sind allerdings eher der subjektiven Situation zuzuordnen. Die Sitze entpuppten sich nach mehr als einer Stunde Fahrt nicht zu einem Quell der Freude. Sowohl mir, als auch der besten Frau des Planeten, waren sie im Bereich der Oberschenkel zu schmal. Hinzu kam ein Druckgefühl am Steiß, dass der einer harten Stange in der Konstruktion, ein Problem, was man vor Jahren bei Volvo hatte, nahe kommt. Schnell der Blick aufs Tacho: 2.500 km – der Wagen ist noch neu, der Sitz kann nicht durchgesessen sein. Jetzt sind die 100Kg, die meine Personenwaage anzeigt nicht der Ausdruck von Federgewicht, aber es ist halt meine Startschwelle – die bei meiner Frau deutlich niedriger liegt. Wird das unser K.O.-Kriterium?
Als letztes vermerke ich noch ein sehr blechern wirkendes nicht angenehmes HiFi-System. Davon liest man ja schon an verschiedenen Stellen im Forum. Die Hörproben haben wir mit DAB, FM und Bluetooth vom iPhone gemacht und waren durchgängig nicht angenehm zu hören. Selbst verschiedene Einstellung am System, mit oder ohne Surround etc. brachten keine abschließende Zufriedenstellung. Aber das wäre jetzt kein Showstopper. Wir haben aktuell Wireless CarPlay, das sollte man beim Kia aber auch irgendwie hinbekommen, im Zweifelsfall mit einer Box dazwischen.
Also komme ich zu meinem Fazit für den EV6: Ein klasse Wagen, wenn mich der Sitz nicht piesacken würde. Es gibt da wohl keine Alternativen ab Hersteller und damit kommen wir nicht zusammen, außer "kein GT-Line". Aber ich habe auch ein wenig Enttäuschung erfahren, dass sich an anderen Stellen für mich (!) wenig Verbesserung zu meinem 4 Jahren alten E-Dino finden lassen. Im Bereich der Information des Fahrers hatte ich mir mehr erwünscht, da sehe ich kaum Vorteile, an manchen Stellen sogar Nachteile zum alten Fahrzeug. Wo bleiben die Technologiesprünge von denen gerne in Autoforen erzählt werden?
Den Verbrauch schätze ich im Mittel mit 10-20% niedriger ein, als bislang, dafür ist der Akku auch 10% kleiner, also mehr ein wirtschaftlich-ökologisches Thema als die große Relevanz im operativen - Stichwort Erstreichweite nach dem Start zu Hause. Die schnelle Ladeperformance wäre etwas, aber ich lade nicht viel „unter Zeitdruck“ am HPC. Nach meinen Aufzeichnungen habe in 2022 und 2023 rund 2.400 kWh extern am HPC geladen. Davon 70% auf Urlaubs- und Ausflugsfahrten - chillig bei uns! Die benötigten 30 Stunden im Jaguar würden im Kia wahrscheinlich halbiert. Also 15 Stunden Lebenszeitvorteil, davon evtl. 3 Stunden in der Arbeitszeit in 2 Jahren. Was ist einem das wert? Mich drückten die Ladezeiten bislang eher selten. German-Recihweiteangst - jo darunter leide ich nicht. Zum Verbrauch: Im Vergleichszeitraum hat der I-Pace bei einem Schnitt mit Ladeverlusten 28,5 kWh/100 km benötigt, das sind 15.000 kWh in 24 Monaten, davon 11.000 kWh zu Hause bei 80% reinem Sonnenstrom aus eigener PV-Züchtung, fehlende Strommengen sind meist beim Kunden oder in der Familie geladen. Finanziell wäre der Minderverbrauch wenig wert.
Am Ende der samstäglichen Rundfahrt wird es der EV6 wohl nicht werden. Irgendwie schade und überraschend, da ich von Sitzproblemen wenig lese, aber sind nun einfach da. Allerdings – ganz ehrlich – war der Rest der Testerfahrung auch nicht dazu geneigt, ein Haben-Wollen-Gefühl aufkommen zu lassen. Es war angenehm im EV6 und ich kann jeden verstehen, der diesen Wagen mag.
Da werde ich mir mal den Enyaq besorgen und schauen, wie der diese Runde bewerkstelligt. Hier erscheint es wichtig ein 24er Modell zu bekommen, da neue Technik aus dem ID7 auch bei der tschechischen Tochter Einzug erhalten haben sollen. Ob der ID7 GTX und der 001 noch rechtzeitig im Markt auftauchen werden, ist genauso ungewiss, wie die Vorstellungen der Leasinggesellschaft zur Übernahme des Kätzchens, die ja auch möglich sein könnte.